Wenn aus einem Videospiel ein Warenlager wird
13.05.2019In der russischen Stadt Tomilino, südöstlich von Moskau, steht ein menschenleeres Gebäude. Bis unters Dach ist es mit Kartons gefüllt, in denen teils uralte Bankdokumente lagern. Bis in die 1920er Jahre datieren die rund zwei Millionen Kisten mit Überweisungen, Verträgen und Urkunden. Damit die wertvollen Papiere weder Feuer fangen noch altern können, ist der Sauerstoffgehalt auf ein Niveau reduziert worden, wie es sich auf dem Gipfel des Mont Blanc findet. Menschen könnten hier nicht arbeiten. Deshalb übernehmen das Roboter. Sie sortieren die Kartons, heben sie in hohe Regale und befördern sie an ihren Bestimmungsort.
Das Lagerhaus wurde von Viastore gebaut, einem Unternehmen aus Stuttgart-Feuerbach. Viastore plant Lager- und Logistiksysteme, stellt die dafür notwendigen Bediengeräte her und bietet die dahinter arbeitende Software an. „Eigentlich könnte man sagen, dass wir unseren Kunden die Lieferfähigkeit liefern“, erklärt Philipp Hahn-Woernle, der Geschäftsführer von Viastore. „Teils bauen wir ganze Lagersysteme, teils modernisieren wir bereits bestehende Anlagen im laufenden Betrieb.“ Diese Lagersysteme können Paletten-Hochregallager sein, wie man sie aus dem Alltag beispielsweise von Ikea kennt, oder auch Shuttle-Lager, in denen ein Roboter das Verstauen und Hervorholen der Ware komplett automatisch übernimmt.
Virtuelle Realitäten bei der Lager-Planung
„Die Kunden, die sich an uns wenden, haben unterschiedliche Probleme“, berichtet Hahn-Woernle. Zum Teil sei zu viel Ware im Lager vorhanden und zu wenig Platz dafür, zum Teil sei nicht mehr klar, was wo gelagert sei und deshalb würde dann das Falsche geliefert oder die Lieferung dauere zu lang. „Das sind die typischen Probleme. Die Mitarbeiter müssen zu viel laufen, was Zeit kostet, oder zu schwer tragen, was auf Dauer der Gesundheit schadet. Der Aufbau des Lagers ist zu umständlich und Wissen darüber, was wo liegt, hängt von einzelnen Mitarbeitern ab und ist nirgendwo zentral gespeichert.“ Die unübersichtlichen und vollgestopften Lager sind ärgerlich und kosten den Kunden Geld.
Werden Hahn-Woernle und sein Team um Unterstützung gebeten, setzt man sich erstmal in Ruhe zusammen. Die Viastore-Mitarbeiter lassen sich im Detail erklären, welche Aufgabe das Lager haben soll und welche Arbeitsabläufe darin vorgesehen sind. Danach wird ein strukturierter Plan erstellt. „Eine Besonderheit bei uns ist der Einsatz von Virtual Reality bei der Beratung und der Präsentation der ersten Ideen. Der Kunde hat die Möglichkeit, sich das geplante Lagersystem in allen Einzelheiten anzusehen. Da er dabei die VR-Brille trägt, hat er den Eindruck, direkt vor Ort zu sein. Fehler oder Unstimmigkeiten fallen viel schneller auf, als wenn man sich das Ganze auf herkömmlichen Papierplänen anschauen würde“, macht Philipp Hahn-Woernle klar. „Die Technik, die dahinter steht, kommt ursprünglich aus dem Videospiel-Bereich. Und man muss ehrlich sagen, das macht wirklich Spaß.“ Eine Software erlaubt es, den Materialfluss des Lagers vor dem eigentlichen Bau virtuell in Betrieb zu nehmen. Sämtliche Szenarien können simuliert, Komponenten hinzugefügt oder entfernt und Funktionen getestet werden.
Vernetzt, im Fluss und aufgeräumt
Die Arbeit von Viastore besteht zu einem guten Teil aus der Verbesserung von Materialflüssen und sowie dem Abstimmen von Arbeitsschritten. Zum Beispiel überwachen sich die Viastore-Lagersysteme mit ihrer Vielzahl von Maschinen, Förderbehältern, IT-Systemen und Prozessen permanent selber: „Die Komponenten eines Lagersystems stehen in einem ständigen Austausch. Dadurch lassen sich ungeplante Stillstände fast vermeiden“, so Hahn-Woernle. Das System meldet frühzeitig, wenn sich Teile an der Verschleißgrenze befinden. Es schlägt dann entsprechende Maßnahmen vor oder leitet sie sogar selbstständig ein. Zudem kann das Lager flexibel auf die jeweilige Nachfrage reagieren. Wird weniger Ware gefordert, drosselt das System automatisch seine Aktivität. Darüber hinaus kann das Lager häufig angeforderte Produktkombinationen erkennen und die Ware selbstständig so legen, dass die Zugriffswege sehr kurz und damit zeit- und energiesparend sind: „Diese ganzen Funktionen sind nur deshalb möglich, da es im Lager neben dem herkömmlichen Warenfluss einen Fluss an digitalen Informationen gibt, mit allen relevanten Daten in Echtzeit. Über diesen digitalen Fluss stehen sämtliche Komponenten im Lager in Verbindung und reagieren aufeinander“, erklärt Hahn-Woernle.
Die Kunden von Viastore sind zur einen Hälfte typische mittelständische Maschinenbauer und Zulieferer, oft die berühmten Hidden Champions. „Viele unserer Kunden produzieren all die versteckten Teile, die man im Alltag nicht wahrnimmt, ohne die es aber nicht funktionieren würde“, sagt Philipp Hahn-Woernle. „Die andere Hälfte unserer Kunden stammt aus dem Handel, der Pharma- und Chemieindustrie oder der Lebensmittelherstellung. Eben alle, die viele verschiedene Komponenten lagern und verteilen müssen.“ Gerade bei Lagersystemen, in denen Lebensmittel oder Chemikalien aufbewahrt und verteilt werden, kommt es darüber hinaus nicht nur auf ein effizientes Unterbringen an, sondern auch auf die richtigen Umweltbedingungen. Das System muss beispielsweise permanent überprüfen, ob die Raumtemperatur niedrig genug ist oder die Kühlkette lückenlos dokumentiert wurde – oder eben, ob der Sauerstoffgehalt in der Luft gering genug ist, wie in der menschenleeren Lagerhalle im russischen Tomilino.
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